Dienstag, 1. Dezember 2009

Außergeistige Erfahrungen oder Das Glück liegt nicht unter der Fußmatte Teil 2

Das Nächste, an das ich mich erinnern kann, ist, dass ich nackt vor meiner Wohnungstür stand.

Während ich da also so nackt vor meiner Wohnungstür stand, und nur damit es hier keine Missverständnisse gibt, ich stand außerhalb meiner Wohnung, kam ich langsam - und ich meine wirklich langsam - wieder zu mir. Mein Körper stand vor meiner Tür, meine Hand zuppelte am Türgriff herum. Alles ohne mein Zutun, alles auf Autopilot. Es ist ein seltsames Gefühl, wenn man zu sich kommt, während man etwas tut. Wenn der Verstand sich verabschiedet hat, agiert man dabei für gewöhnlich nicht. Entweder man schläft, ist ohnmächtig oder liegt ausgeknockt in der Ecke, aber man fummelt nicht stehend an irgendetwas herum.

An diesem Morgen bewies ich mir selbst das Gegenteil.

Anfangs dachte ich nichts. Ich kehrte einfach wieder in meinen Körper zurück und wurde Zeuge der Dinge, die ich da tat.

Ich fummelte am Türgriff herum.

Ich zog an der Tür.

Wieder fummel fummel am Griff.

Blick unter die Fußmatte.

Griff.

Fußmatte.

Das ging eine kleine Weile. Dann kam eine Stimme in meinem Kopf dazu:

„Ich muss hia nur (Türziehen)… nä – Aber jez so, dann (Türdrücken)… wieso gehd das’n nich? – Häh? Doch gez, dann (Türziehen)… nee. Ma’ ich muss nur so, dann (Türziehen)… Hää? – Ah, unner der Fuusmatte is beschdimmd (Fußmatte anheben)… Quadsch… hier em ziehn’ dann is jut und ich kann (Türziehen)…manney. Wenn ich gez hia so vielleichdunnerderfuusmadde (Fußmatte anheben)…“

Dann eine zweite Stimme:

„Scheisse!“

„Neeein, isch muss nur hier so, dings (Türdrücken)…“

„Nein, Mann, die Tür is zu.“


„Jaja, aber mann muss nur hier so, drüggen un’ dann (Türdrücken)…wieso geddndasnichjeeds?“

„Nee, das geht nicht. Das klappt nicht. Hier stimmt irgendwas nicht.“


„Dooochgugma… dasgeinbroblemhia weil nuama hiasoundann, habich gleich, momento. (Türziehen/Türdrücken)“

„Scheiße, ich glaub diesma hast du echt Mist gebaut.“


„Meinse? Und wenn wir hia unner der Fuusmattte (Fußmatte anheben)…?

„Nein, Mann! Da ist nix unter der Scheißfußmatte! Hör mir jetzt gut zu - Du hast dich ausgesperrt und hast keinen Schlüssel!“

"Scheisse… dasjadoof.“


„JA!!“

„Hm… da müssn wir halt den Schlüssl von unner der Fusmadde nehmen (Fußmatte anheben)…“

„NEIN! Da ist kein Schlüssel! Da war nie einer. Du stehst nackt und besoffen vor deiner Wohnungstür!“

„(an sich runter guck) Schtimd… Scheise.“

„Ja, Scheiße! Was machen wir denn jetzt?“

„Dasjaheftigey…"


"Ja! Was machen wir denn jetzt?“


„... uh, da hab ich jetz kein bock drauw... beschäftige ich mischspäddermid... bin fiel zu bsoffen.“

„Was?“

„Muss ich mich ersma hinlegen, ersma schlafen. Am besden auffer Fuußmatte…ja genau, dasne gudeidee“

„NEIN! DAS GEHT JETZT NICHT! WACH AUF, MANN! DENK NACH, DENK NACH! DENK NAAAAACH!!!!“

„Scherei michnich an!“

Das ging dann noch eine Weile so weiter, aber schließlich kam ich dann doch noch zu dem Entschluss, dass sich auf der Fußmatte einkringeln und erst mal schön fluchtmäßig Bubu machen, mich wahrscheinlich nicht weiterbrächte. Ein Schlüsseldienst wäre rein technisch gesehen die beste Lösung gewesen, allerdings gab es da gleich mehrere Probleme.

Der ein oder andere kann sich vielleicht noch an den Werbespot erinnern, in dem eine Frau aus dem Meer stieg, zu einer Bar oder einem Geschäft ging und als sie zahlen sollte, sie einfach eine VISA Kreditkarte aus ihrem Badeanzug zog und diese auf den Tresen klatschte… Da, selbst wenn ich eine Kreditkarte gehabt hätte, es rein technisch gesehen nur eine Stelle gab, aus der ich eine Kreditkarte hätte ziehen können - und ich bezweifele, dass der Mitarbeiter vom Schlüsseldienst-Service diese kommentarlos akzeptiert hätte - fiel diese Option leider aus.

Davon abgesehen, wie hätte ich den Schlüsseldienst anrufen sollen? Eine geeingnete Stelle, aus der ich mein Handy hätte herausziehen können, hatte ich auch nicht. Es gab also nur die Möglichkeit bei einer meiner zwei Nachbarinnen zu klingeln, um zu fragen, ob ich wohl mal telefonieren könne. Das wäre allerdings a) sehr peinlich gewesen und b) die Vorstellung, nackt und stinkend neben dem Schlüsseldiensttypen zu warten, bis er mir dann Zutritt zu meiner Wohnung verschafft... ich weiß nicht, ich weiß nicht.

Es musste anders gehen. Und zwar mit Geduld und Gewalt. In meiner Wohnungstür sind neun DIN A5 große Kathedralenglasscheiben eingefasst. Ich entschied ich mich dafür, das Glas neben dem Türgriff einzuschlagen und so quasi in meine eigene Wohnung einzubrechen.
Das war der Plan.
Niemand würde jemals von dieser peinlichen Episode erfahren. Aber sofort tat sich das nächste Problem auf. Womit sollte ich die Scheibe einschlagen? Ich entschied mich für meinen linken Laufschuh. Ich stülpte ihn über die Hand. Ich sammelte und fokussierte meine Energie, um mich anschließend konzentriert zu entladen.
Ein einziger Schlag. Entschlossen. Fokussiert. Zum Ziel führend.
Ich entlud meine Energie, schlug gegen die Scheibe und - nichts passierte.
Noch mal. Sammeln. Konzentrieren. Energie bündeln. Nichts. Noch mal. Nichts. Nichts, gar nichts. Die verdammte Gummisohle meines Laufschuhs war derart gut gepolstert, dass die Scheibe vollkommen unbeeindruckt blieb. Hysterisch und verzweifelt wiederholte ich die Prozedur mehrfach, brach sie allerdings schlagartig ab, als mir plötzlich klar wurde, dass das Einzige, was ich erreichen würde, wäre, dass meine Nachbarin, aufgeschreckt durch das Hämmern an meiner Tür, nach dem Rechten sehen und mich nackt und nur mit einem Turnschuh auf meiner linken Hand bekleidet vorfände, wie ich wie ein Geisteskranker auf meine Tür einschlage. Ein Bild wie aus einem Fellini Film oder wie aus „Die Blechtrommel“.
Ich brauchte etwas Härteres. Etwas Ungummiertes – vielleicht im Keller? Nackt huschte ich durch das Treppenhaus in den Keller. Ich brauchte etwas Massives. Etwas aus Metall. Einen Hammer. Eine Axt. Eine Brechstange.
Ich fand eine Lackdose.
Eine Lackdose? Metall immerhin. Nackt und mit der Metalldose in der Hand wieder hochgehuscht. Das Ganze noch mal von vorne. Sammeln. Konzentrieren. Energie bündeln und explodieren. Nichts. NICHTS! Das Einzige, was ich erreichte, war eine Beule in der Lackdose. Waren die Scheiben in meiner Tür in Wahrheit aus Panzerglas? Wer hatte hier vorher gewohnt? Was sollte ich jetzt tun?

„Es gibt noch eine Möglichkeit.“

„Nein. Es muss irgendwie anders gehen.“

„Es geht nicht anders.“

„Bitte nicht. Irgendeine andere Möglichkeit muss es doch geben.“

„Gibt es aber nicht. Und jetzt reiß dich zusammen! Reiß dich zusammen! REIß DICH ZUSAMMEN!“

Sich nackt und betrunken auszusperren, ist ja an sich schon scheiße. Aber nackt und betrunken das tun zu müssen, gegen das ich mich verzeifelt sträubte...

Ich habe Katzen – und wenn ich nicht da bin, dann ist meine Nachbarin, die im Parterre wohnt so nett und füttert sie für mich. Damit sie das tun kann, habe ich ihr einen Schlüssel meiner Wohnung gegeben. Zu diesem Zeitpunkt wohnte ich seit ungefähr einem halben Jahr in meiner Wohnung. Und bin mir relativ sicher, dass meine freundliche Nachbarin bis dahin einen zumindest halbwegs patenten Eindruck von mir hatte. Und diesen Eindruck sollte ich jetzt nicht nur beschädigen, sondern in kleine Stücke zu zerreissen und auf das, was übrig blieb, lachend urinieren, in dem ich, die Fußmatte vor mein Geschlecht haltend bei ihr klingele und ihr erklären, dass mir da ein kleines Maleur passiert sei und ob sie mir bitte den Schlüssel für meine Wohnung geben könne.

„Du hat noch Wäsche im Keller.“

Ich hatte noch Wäsche im Keller. Wäsche. Anziehsachen! Kleidung, die mich vor meiner größten Peinlichkeit retten könnte. Ich also wieder nackt in den Keller gehuscht und ja, ich hatte noch Wäsche auf der Leine.

„Yeah!“

Aber nur Oberteile und Socken.
Oberteile und Socken? Das ist ja noch schlimmer, als gar nichts an. Sollte ich wie einer von den Red Hot Chilli Peppers mit einer Socke über meinem Glied meiner Nachbarin vor die Augen treten? An einem Sonntagmorgen, um 9:00 Uhr? Das musste doch irgendwie anders gehen. Waren das wirklich nur Oberteile und Socken? Ja. Immerhin schwarze Socken. Aber das brachte mich auch nicht wirklich weiter. Was war denn das? Ein Longsleeve. Ein rotes Longsleeve. Damit müßte man doch irgendwas... Ich versuchte mir das Longsleeve, wie eine Windel umzuwickeln, was aber nicht gelang. Und was wäre, wenn ich... Ich zog mir ein T-Shirt an, Socken – an den Füßen – und dann stieg ich in das Longsleeve rein. Das untere Ende nach oben, die Beine in die Ärmel und – naja – das Loch für den Kopf so zurechtgezupft, dass es eher meinen Hintern, als meinen Schritt freigibt. Auf einen flüchtigen Blick würde es so aussehen, als ob ich eine ausgeleierte, Leggins tragen würde. Ich also aus Keller raus und mich vor die Tür meiner Nachbarin positioniert. Es verging eine Ewigkeit, bevor ich die Kraft fand zu klingeln.

„Komm schon. Du kannst das!“

„Nein. Ich will nicht!“

„Du musst!“

„Ich weiß.“

Sammeln. Konzentrieren. Energie bündeln. Ding Dong.

Meine Nachbarin öffnete die Tür.

Ich (total überdreht): „Guten Morgen. Mensch, stellen Sie sich vor. Ich hab mich ausgesperrt. Könnte ich wohl von Ihnen meinen Schlüssel haben?


Sie: „Was? Aber ja, natürlich. Dafür ist ja dann auch gut, dass ich ihren Schlüssel habe.“

Ich: „Jaja, genau.“

Sie: „Hier, bitte.“


Ich: „Danke. Tschühüss.

Sie: „Tschüss.“

Tür zu. Erleichtert und unendlich beschämt ging ich die Treppe hoch. Hat sie was gemerkt? Egal. Hauptsache jetzt endlich wieder in meine Wohnung und schlafen. Die Schande wegschlafen. Kopfschüttelnd und mit dem festen Vorsatz, weniger Alkohol zu trinken, steckte ich den Schlüssel ins Schloss und musste feststellen, DASS ER SICH KEINEN SCHEIß ZENTIMETER BEWEGEN LIEß. UND WARUM? WEIL MEIN SCHEIß SCHLÜSSEL NOCH VON INNEN IM SCHLOSS STECKTE!!!

Die ganze peinliche Aktion mit meiner Nachbarin war vollkommen umsonst.

Wenn ich vorher noch nicht verzweifelt war, dann spätestens jetzt. Ich wollte in meine Wohnung. Ich musste in meine Wohnung. Es musste doch irgendwie möglich sein. Ich sah mir das Glas noch mal genau an. Und jetzt viel mir auf, dass die renitente Scheibe irgendwie anders war, als die übrigen. Sie hatte eine andere Textur und schien dicker zu sein. Wahrscheinlich hatte sich mein Vormieter ebenfalls ausgesperrt, hat das Glas eingeschlagen und später ein anderes wieder eingesetzt.

Ob er dabei auch nackt gewesen ist?

Das hieß also, dass die anderen Scheiben vielleicht nicht aus unverwüstlichem Panzerglas waren. Ich schaute mir die über der ausgewechselten Superscheibe an. Hm. Vorsichtig tastete ich das Glas ab. Es war von der Innenseite wahrscheinlich nur mit schmalen Holzleisten eingefasst. Wenn ich am Rand gleichmäßig drücken würde, dann könnte ich es schaffen, dass der Rahmen nachgibt und die Scheibe am Stück in die Wohnung fällt. Wahrscheinlich würde sie dabei sogar ganz bleiben. Ich bin ein Genie.

Vorsichtig drückte ich gegen das Glas, etwas mehr, etwas mehr, etwas – dann splitterte das Glas und schlitzte mir meinen Daumen längseitig auf. Blut tropfte in dicken, schweren Tropfen auf den Boden. Meine Katzen miauten. Aber scheißegal. Ich kam an die Türklinke und brach in meine eigene Wohnung ein. Mit einer Mischung aus Triumph und Scham wickelte ich mir meinen Daumen in ein Geschirrtuch und schwor mir nie wieder Alkohol zu trinken.

Jedenfalls nicht mehr soviel.